Kunst als Prägestempel auf der Seele
©Dr. Karin Jäckel
Kalt war’s. Schnee lag in der Luft. Ich behaupte ja trotz gegenteiliger Studienergebnisse, dass man ihn riechen kann, den kommenden Schnee. Über der Kleinkunstbühne in Freistett, kurz Ku-Stall genannt und von der Familie Martin, Despina und Alexander Schütt als Familienbetrieb geführt, breitete sich weihnachtlich funkelnder Lichterglanz aus. Sichelscharf stand der Mond am Abendhimmel und in der schmalen Zufahrtsstraße ein Auto hinter dem anderen. Ausverkauft war der badisch-elsässische Abend mit dem AutorenNetzwerk Ortenau-Elsass, das ich gegründet habe und leite.
Ich freute mich auf den gemeinsamen Abend mit sechs von „meinen Leuten“ zu „Wortkunst & Musik“ auf der Bühne. Gruppenauftritte sind das Markenzeichen unseres Netzwerks. Mit jeweils einem/einer Liedermacher/in treten drei bis vier regionale Autor/innen in einem von mir zusammengestellten, mitgestalteten und moderierten Programm mit ihren eigenen Werken auf. An diesem Abend waren wir sogar zu zehnt, nämlich gemeinsam mit den Elsässern Jean-Pierre Albrecht und Martin Schütts Begleit-Pianist, die als persönliche Freunde des Hausherrn, ebenfalls AutorenNetzwerk-Mitglied, als Musiker dabei waren.
Als ich ankam, saßen alle noch im Hinterzimmer beisammen. Draußen im Saal wurde eifrig bestellt, bedient, gespeist, getrunken. Bis kurz vor Beginn trudelte Publikum mit Kartenreservierung ein.
Eng sitzt man beisammen unten im Saal und oben auf der Empore. Von überall ringsum blicken Augen von Künstlerauftritt-Plakaten, locken die unterschiedlichsten Gerätschaften aus alten Zeiten zum Hinstaunen, hört man Stimmgewirr und Lachen. Geschäftig eilen die fleißigen Küchenhelfer hin und her, wieseln die Servierdamen mit Bestellungen herein und Bestelltem heraus, hat die Hausherrin Despina alles im Blick und Griff. Alexander hinter der Theke und überall. Martin besonders am Mischpult neben der Bühne, an den Mikrophonen, bei den Künstler/innen.
Drinnen im Hinterzimmer steigt das Lampenfieber.
Christa Maria Buß wird nach meiner Anmoderation als Erste auftreten. Eigens für den Abend hat sie eine Weihnachtsgeschichte geschrieben. Ich kenne sie, habe sie vorab gelesen, für gelungen befunden, die Geschichte von Antonia und ihrem kleinen Bauernhof mit Kühen und Hühnern, die alle ebenso einen Namen haben wie das Schaf, das schon ein wenig älter und schwanger von Unbekannt ist. Tagelang hat Christa den heutigen Vortrag eingeübt, gelesen, die Zeit gestoppt, gekürzt, gelesen. 15 Minuten hat sie. Wir alle haben nicht mehr Bühnen-Zeit. Doch Christa braucht eher 16 Minuten, 17 vielleicht. Es macht sie nervös. Doch kein Problem. Cindy Blum, unsere Liedermacherin, hat nur drei Stücke eingeplant, braucht ein, zwei Minuten weniger als Christa. Sie ist nach ihr an der Reihe, schenkt ihr die überzähligen Momente. Erleichtert atmet Christa auf.
Anita Vogel ist vortragserfahrener, eine waschechte „Rampensau“, wenn man eine Dame überhaupt so bezeichnen darf. Mit ihren Silberlocken und silbernen Zierspitzen am Rock ist sie so stylisch wie ihre ambitionierte Vortragstechnik. Sie hat als Vorletzte des Abends eine lange Geduldübung auf dem mit einer roten Decke staffierten Autorenwartebänkchen neben dem Eingang vor sich. Ob am Ende wohl noch alle Zuhörer/innen wach seien und sie selbst auftrittsfit, sorgt sie sich. Ich muss lachen. Anitas Vorträge, in bestem Badisch-Alemannisch mit den für mein norddeutsch-gebürtiges Ohr trotz jahrzehntelangen Heimischseins in Baden-Württemberg und dem Schwarzwald lautmalerischsten Kabarett- und Satire-Einlagen versehen, kommen immer an. Überall. Wenn jemandem, dann sind ihr die Lacher heute sicher.
Auch Klaus Huber ist vortragstechnisch ein altbewährter Hase. Er trägt seine Werke, aus denen er lesen will, in einem Korb bei sich. Gelassen zurückgelehnt, blickt er um sich, neigt Ludwig Hillenbrand das Ohr, der ihm gegenüber bei Jean-Pierre Albrecht sitzt, dessen sonorer elsässerditscher Sängerbariton gemütlich und lustig zu mir ans andere Tischende herüberklingt.
Ludwig Hillenbrand ist ein brillianter Erzähler. Ich freue mich auf seine augenzwinkernden Kabinettstückchen voller Wortspielerei auf Badisch.
Unweit von ihm hat Norbert Zoller Platz genommen. Er wird uns seine Lieder zur Gitarre singen. Sein Badisch ist das nördlichste, ein wenig härter als der südlichere Zungenschlag, aber schön. Ich wünsche mir, dass er vom Rhein singen wird, an dem er sinnend sitzt und der Vergangenheit nachlauscht, die von einer friedlicheren Gegenwart abgelöst wurde und der ganzen Welt zu wünschen ist.
Martin Schütt wird singen. Das ist gewiss. Sein Pianist aus dem Elsass sitzt auf der Kachelofenbank. Ich kenne ihn noch nicht. Sein Deutsch ist etwa so gut wie mein Französisch, also verbesserungswürdig. Wir verstehen einander trotzdem. Es macht Spaß, unsere jeweiligen Sprachbrocken miteinander in Einklang zu bringen. Wo’s klemmt, hilft Jean-Pierre Albrecht aus.
„Noch zwei Minuten.“ Martin Schütt führt ein strenges Regiment mit uns. Wie die Hühner auf der Stangen warten wir die sich ziehenden Minuten. Dann endlich der Schritt hinaus in den Saal, ins Scheinwerferlicht, das rot und weiß von irgendwo unter der Empore hervorbricht. Man sieht nicht mehr viel von den Gesichtern ringsum, ahnt eher, fühlt sie, die positive Energie der Vorfreude im Willkommensapplaus.
Zwei Stunden später kann ich nur sagen: Wunderschön war’s! Ein prächtiges Kaleidoskop der Geschichten und Lieder, mal besinnlich, mal satirisch-bös, mal winterweihnachtlich, mal zum Herauslachen. Vorzeitig gegangen ist niemand. Und bei hier und da einmal geschlossenen Augen verrieten die nach oben gebogenen Mundwinkel die Tiefe des Genusses.
Mit ihrem Ku-Stall haben Martin, Despina und Alexander Schütt nicht nur ein Haus mit Ambiente geschaffen, nicht nur ein Kunst-Haus. Es ist ein Zuhause für die Kunst und mit der Kunst geworden. Man kommt in der Gewissheit von Geselligkeit und unmittelbarer Zugehörigkeit zur Atmosphäre der Kunst. Ob als Gast oder kunstschaffend, man kommt, sieht den Glanz der eigenen Vorfreude ringsum gespiegelt, sieht sich in buchstäblich enger Verbundenheit, ist schon beim ersten Schritt in die gemütliche Enge fern jener inneren Fremdheit, die zwischen Unbekannten normalerweise auch dann Distanz schafft, wenn man Schulter an Schulter in Stuhlreihen sitzt.
Als Glanzlicht auf dem Gesamtbild des Abends empfand ich die gemeinsame Nachsitzung bei einer „Bolle de Bollensupp“ und „Baguettl“. Da war viel Gespräch und Lachen über alle Sprachbarrieren hinweg zum gemeinsamen Adrenalinspiegelabbau. Offensichtlich kann man nicht verleugnen: Kunst, egal welche, ist ein Prägestempel auf der Seele, der Künstler, egal welche, verbindet. Wie sagte Jean-Pierre Albrecht so schön: „Wir sehen alle das Gleiche, aber Künstler nehmen anders wahr.“ Vielleicht ist es das. Vielleicht ist es noch viel mehr. Sicher ist, es war ein schöner Abend. Einer von der Sorte „mehr“.