Rauh-Nächte, Tage im Niemandsland der Zeit
©Karin Jäckel
Rauh-Nächte sind die geheimnisvollen 12 Nächte zwischen dem ersten Weihnachtstag und dem sechsten Januar, die mancherorts schon ab dem kürzesten Tag des Jahres, dem Thomastag, und der zugehörigen Nacht vom 20. auf den 21. Dezember und nur bis Silvester oder Neujahr gelten.
Sie stehen im Zeichen des Mondkalenders und symbolisieren die zwölf Mondmonate des Jahres. Man nennt sie auch Rauchnächte oder Glöckelnächte oder schlicht „die Zwölfe“. Gemäß den alten Bauerregeln galten sie einst als wetterbestimmend für das ganze Jahr.
Entstanden sind die 12 Rauh-Nächte aus der Differenz von 11 Tagen bzw. 12 Nächten zwischen Mondjahren mit 354 Tagen und Sonnenjahren mit 365 Tagen. Ihre Spanne umfasst die „toten Tage“, die außerhalb der Mondzeit liegen und dadurch als „aus der Zeit gefallen“ angesehen wurden, - sich quasi im Niemandsland der Zeit befinden.
Die Mondzeit galt lange vor der Sonnenzeit als wichtigste Orientierungshilfe der Menschheit. Daher gehören Mondkalender zu den ältesten Kalendern der Menschheit. Sie berechnen den Monat und das Jahr anhand der Mondphasen mit ihren wechselnden Mondgesichtern. Der neue Monat begann, wenn das „neue Licht“, also der neue Mond, wieder am Himmel erschien. Auch das Mondjahr besteht aus 12 Monaten, jedoch nur 354 Tagen. Bis heute gilt der Mondkalander z. B. im Islam und legt die Feiertage der muslimischen Welt fest wie etwa die Fastenzeit des Radaman.
Von allen Kalendern, die Menschen sich ausdachten, sind Sonnenkalender die am weitesten verbreiteten. Der heute bekannteste „alte“ Sonnenkalender ist wohl der Maya-Kalender, der sich aus zwei verschiedenen Kalenderformen zusammensetzte: Dem Tzolkin-Kalender, einem speziellen Orakel- und Wahrsage-Kalender, und dem Haab-Kalender für die Landwirtschaft.
Der für unseren heutigen, weltweit angewandten Sonnenkalender wichtigste Ganzjahresrechner stammt jedoch aus dem alten Ägypten und Mesopotamien und der Zeit, als Pharaonen Pyramiden erbauen ließen. Die damaligen Astronomen und Mathematiker orientierten sich an der Nilschwemme, die durch den Aufgang des Sternes Sirius vorhergesagt werden konnte. Gleichzeitig gab es einen Sonnenkalender mit 365 Tagen, die in 12 Monate zu je 30 Tagen eingeteilt waren, denen man fünf Tage zugab, um Fehlberechnungen auszugleichen. Später fügten die Babylonier die Sieben-Tage-Woche hinzu. Dieser Kalender gab 4500 Jahre den Jahresablauf vor und wurde zum Wegbereiter unseres heutigen Kalenders.
Bereits unter Julius Cäsar, dem Liebhaber der ägyptischen Königin Kleopatra, wurde im Jahr 45 vor Christus das Jahr ganzen Römischen Reich nach ägyptischem Vorbild auf 365 Tage und sechs Stunden festgelegt und ging als „Julianisches Jahr“ in die Geschichte ein.
Im 16. Jahrhundert nach Christus hielt der römische Papst Gregor XIII. eine Reform dieses Kalenders für überfällig, da sich mittlerweile gezeigt hatte, dass das Julianische Jahr gegenüber dem astronomischen Sonnenjahr um 11 Minuten und 14 Sekunden zu lang war, so dass mit den Jahren tagelange Abweichungen entstanden. Dadurch verschob sich z. B. der astronomische Frühlingsanfang ebenso wie der astronomische Winteranfang und damit auch die Zeitpunkte wichtiger Kirchenfeste wie etwa Ostern. Im Jahr 1582 hinkte der Kalender dem astronomischen Frühlingsanfang schon um zwei Wochen hinterher.
Um diese Fehler auszugleichen, ließ Papst Gregor XIII. die Zeit am 4. Oktober 1582 quasi stillstehen, indem er zehn Tage übersprang und seinen neuen Kalender ab dem 15.Oktober 1582 weiterlaufen ließ. Seitdem galt der sogenannte Gregorianische Kalender, der sich mit seinen 365 24-Stunden-Tagen und Schaltjahren an der Sonne bzw. am Lauf der Erde um die Sonne ausrichtet und eigentlich nicht Sonnen- sondern Erdkalender heißen müsste. Ein Fehler, der auf unserer Wahrnehmung von Sonnenauf- und untergang beruht, der den falschen Eindruck auslöst, die Sonne bewege sich um die Erde, obwohl tatsächlich die Erde sich um die Sonne dreht.
Warum Papst Gregor sich entschloss, das fehlerhafte Julianische Sonnenjahr zu reformieren, geht vermutlich auch auf die Tatsache zurück, dass schon alle alten Völker der Welt das Licht verehrten und die beiden Zeitpunkte der Sonnenwende im Sommer (21. Juni) und Winter (21. oder 22. Dezember) als Tod und Wiedergeburt des Lichts feierten, - also bewusst oder unbewusst dem Gottessohn huldigten, der als „Licht der Welt“ gilt. Wenn die astronomischen Sonnenwendtage nicht mehr mit dem Kalender übereinstimmten, die Menschen aber weiterhin diese Sonnenwendtage feierten, ging dies an den kalendarisch festgelegten christlichen Feiertagen vorbei und begünstigte die alten „heidnischen Bräuche“. Das durfte nicht sein.
Mit der französischen Revolution, die nicht nur die Privilegien des Adels, sondern auch die alles dominierende Autorität des Kirchenklerus abschaffen wollte, erfuhr der Kalender einen Umbruch zum Republikanischen Kalender. Er wurde quasi neutralisiert, indem die christlichen Feste, Feiertage und Heiligenzuweisungen entfernt und stattdessen die Daten der neuen republikanischen Feste eingeführt wurden.
Gegenwärtig kann man unter christlich konnotierten oder ferienorientierten oder einem Mix aus beiden Kalendarien mit und ohne Mondphasen wählen. Hauptsache, es sind 365 Tage darin.
Die Zeit der Rauh-Nächte, vor allem aber ein Teil ihrer alten Bräuche, hat sich im Bewusstsein der Menschen über allem Hin und Her zwischen Astronomie und optischer Wahrnehmung, zwischen Glauben und Aberglauben lebendig erhalten.
Seit jeher gelten die Rauh-Nächte als eine Phase, in der die Naturgesetze außer Kraft treten. Man glaubte, in ihnen öffne sich ein Durchgang zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen realer Welt und Geisterwelt, zwischen Fakten und Fantasie. Da das Geisterreich offenstehe, wähnte man die Seelen der Verstorbenen und alle Geister zwischen den Welten unterwegs. Dämonen glaubte man ihr Unwesen treibend. Und als sicher galt, dass Zauberkundige oder Menschen, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatten, in diesen Nächten als Werwölfe mordeten und als Hexer oder Hexen Schadenzauber über Mensch und Tier sprachen.
Zur Mitte der „Zwölfe“, also zu Silvester, vermeinte man, die „Wilde Jagd“ am Nachthimmel aufbrechen zu sehen. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Göttern und Dämonen, die zusammen mit dem Gott Odin oder Wotan als Jäger durch die Finsternis jagen. Wenn die Wilde Jagd mit Sturm und rasenden Wolken am Himmel auftauchte, sah man sie als Vorboten für Kriege oder Naturkatastrophen wie Dürre, Hungersnot, Überflutungen an. Auch galten sie als Hinweis auf nahende Epidemien wie die Pest oder den bevorstehenden Weltuntergang. Wer Augenzeuge ihres Erscheinens wurde, glaubte sich verloren. Entweder war man dem baldigen Tod geweiht oder starb sofort und die arme Seele wurde in den Zug der Dämonen hinein- und für immer auf die Wilde Jagd mitgerissen.
Keinesfalls sollten Kinder in den Rauh-Nächten auf der Straße sein. Sie würden sofort von den Wilden Jägern geraubt. Und wer ausgerechnet in dieser Zeit Wäsche wusch und Leinen zum Trocknen spannte, wurde als Narr angesehen. Es könnten sich ja die Geister und Dämonen der Wilden Jagd darin verfangen. Schlimm, wenn man überdies auch noch Weißwäsche daran hängen hatte. Garantiert würden die Wilden Jäger sie stehlen und im Laufe des Jahres als Leichentuch für den- oder diejenige verwenden, dem sie gehört hatte. Hatte eine Frau gar ihre Unterwäsche auf der Leine vergessen, war ihr Schicksal besiegelt. Ohne Zweifel würden die Wilden Jäger sich davon angelockt und verführt fühlen und über die Besitzerin herfallen.
Auch wer sich beim Karten- oder Würfelspiel erwischen ließ, war dem ewigen Verderben anheimgegeben, denn die Seele des Verruchten fuhr auf der Stelle in den Tross der Wilden Jagd hinauf und durfte auf keine Erlösung mehr hoffen. Schließlich hatten einst in dieser Zeit die Soldaten unter dem Kreuz um Christi Mantel gespielt.
Und wenn eine Magd oder Hausfrau zu faul war, vor den „Zwölfen“ ihre Spinnrocken abzuspinnen, hatte die Rockenmuhne böse lachen, die nicht vor Strafen zurückschreckte und den Faulenzerinnen Unheil anhexte.
Doch nicht nur die Geisterwelt zeigte sich in ihren grausamen Gestalten. Wer es wagte, warf selbst einen Blick hinein, indem man das Orakel befragte. Blei und Wachs wurden gegossen und aus den Formen Rückschlüssen auf all das gezogen, was man wissen wollte. Zwickte die Neugier eine ledige Frau, so konnte sie um Mitternacht an einem magischen Ort wie etwa an einem Kreuzweg oder auf dem Friedhof ihren Zukünftigen erblicken. Schweigend zog seine Geistgestalt dann an ihr vorüber. Doch wehe, sie sprach diese an oder schaute ihr nach! Der sofortige Tod war der Dummen gewiss. Nicht anders, so glaubte man, ergehe es den Lauschern im Stall, die sich heimlich hinzuschlichen, um den Tieren im Stall zuzuhören, die um Mitternacht mancher Rauh-Nächte, besonders in der Weihnachtsnacht, miteinander in menschlicher Sprache sprechen und die Zukunft voraussagen würden. Mehr noch, die sich dann bei einem guten Geist über ihren Herrn oder die Herrin beklagen und Strafe über sie herabbeschworen könnten.
Auch Träume hatten in diesen Nächten eine tiefere Bedeutung, denn was man in den Rauh-Nächten träumt, soll angeblich in den Monaten des Jahres, die jeweils einer Rauh-Nacht zugeschrieben werden, wahr werden. Alle Träume vor Mitternacht beziehen sich auf die erste Hälfte des Jahres, alle nach Mitternacht auf die zweite.
Heute vermutet man, dass noch bestehende Bräuche zur Winterauskehr am Ende der Fastnacht im Zusammenhang mit dem einstigen Rauh-Nacht-Zauber zu verstehen sind.
Woher der Name „Rauh-Nacht“ rührt, ist ungewiss. Manche Ethymologen führen es auf das mittelhochdeutsche Wort „rûch“ für „haarig“ zurück, das bis heute im Kürschnerbegriff „Rauchware“ für Pelze verborgen ist. Es sei, so sagt man, ein Hinweis darauf, dass in Rauh-Nächten haarige, pelzige Dämonen ihr Unwesen treiben oder man geheimnisvolle Rituale rund um das Vieh vollzog. Andere Forscher sehen den Begriff eher dem Rauch entlehnt, besonders dem Weihrauch, mit dem das Böse aus Häusern und Ställen ausgeräuchert werden sollte.
Einfacher zu definieren ist die regionale Bezeichnung der Rauh-Nächte als „Glöckelnächte“. Dahinter verbirgt sich ein schöner Einkehrbrauch, bei dem man von Tür zu Tür ging und dort „glöckelte“, also die Türglocke schlug und sich von den Hauswirten bewirten oder beschenken ließ. Ein Brauch, der heute noch in den „Gizzig“-Rufen der Kinder lebendig ist.
Mit Sicherheit geht unser Silvesterfeuerwerk ebenso wie das Böllern auf die alten Rauh-Nacht-Bräuche zurück. Lärm und Feuer sollten Geister und Dämonen und alle anderen Unholde fernhalten. Je höher die Flammen schlugen, je lauter die Böller krachten, je greller man schrie und je wilder man zur Musik tanzte, desto sicherer glaubte man, die Jäger der Wilden Jagd und ihren Heerzug zu treffen und zu verjagen und alle anderen Bösen von den durchlässigen Grenzen zwischen Welt und Anderwelt abzuschrecken.
Früher war die Geisterwelt so nah und gefährlich, dass man sie mancherorts mit Gebet und Fasten verbrachte. Und bis heute sind die Rauh-Nächte keineswegs nur Aberglaube und Spökenkiekerei für jedermann. Nicht wenige Menschen sehen in ihnen eine tiefere Bedeutung und schreiben ihnen einen Zauber zu, dessen Kräfte sie in der Natur lebendig sehen.
Fotos&Text©Dr.Karin Jäckel