Einführungsrede zur Vernissage am 18. Oktober 2019
von Dr. Karin Jäckel
Leitgedanken
Unter dem Leitgedanken „Das Wort & Es Werde“ sind Sie, meine Damen und Herren, heute zur Vernissage der Kunstausstellung des im nahen Bühl lebenden Bildkünstlers und Autors Helmut Hannig eingeladen.
Als promovierte Kunsthistorikerin und vor allem als Gründerin und Leiterin des AutorenNetzwerks Ortenau-Elsass habe ich die Ehre und Freude, Ihnen den Künstler als unser aktives Mitglied vorzustellen und Sie in seine Ausstellung einzuführen.
Der Titel „Das Wort & Es werde“, den er Künstler Helmut Hannig für seine Ausstellung wählte, mutet biblisch an. Er erinnert an die Schöpfungsgeschichte, wie sie im Alten Testament mit den Worten beginnt: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer. Und war finster auf der Tiefe und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht.“ (Genesis 1, 1-3)
Nicht viel anders also, als sie im Neuen Testament im Johannesevangelium niedergeschrieben ist, nämlich: „Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ (Joh. 1, 1-3)
Das Wort als Beginn allen Werdens und Gewordenen, - das ist der Impuls des Erschaffens, ist die Initialzündung zu einem jeden auch menschlichen Erschaffen und Werk.
„Das Wort wird nicht leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende“, heißt es an anderer Stelle in der Bibel (Jes. 55, 10).
Das ist die Wirkmacht des Wortes, das ausgesandt, ausgesprochen, niedergeschrieben, in Bilder gebannt, in Holz geschnitten, in Stein geschlagen, auf Papier gedruckt und immer mit dem Auftrag des Werdens und Seins, mit dem Auftrag zu „tun“, was dem gefällt, der es verlautbaren lässt, und dem Ziel des Gelingens, wozu es bestimmt ist.
In Helmut Hannigs Werk sehen Sie diese Symbiose aus Wort und Werde in allen seinen geschriebenen und ins Bild gesetzten Mitteilungen, die Inspiration und Abstraktion auf sich vereinigen und gerade dadurch real werden.
Le Bateau Ivre oder Das Trunkene Schiff
Wenngleich Helmut Hannig weitaus mehr geschaffen hat als dieses eine, stelle ich sein Werk „Das trunkene Schiff“ als Nachdichtung des Poems „Le Bateau Ivre“ von Jean Nicolas Arthur Rimbaud ins Herz der heute in diesem lichtgefluteten Rathaussaal eröffneten Ausstellung.
„Le Bateau Ivre“, zu Deutsch „Das trunkene Schiff“, ist, wie schon erwähnt, im Original dem Schriftsteller Jean Nicolas Arthur Rimbaud zu verdanken, der von 1854 bis 1891 lebte und zu den namhaftesten französischen Dichtern zählt.
Um das 100 Zeilen und 25 Strophen umfassende Poem zu verstehen, muss man sich mit dem Leben des Dichters befassen. Und selbst dann wird man nicht vollständig gewiss sein dürfen, es im Sinne des Verfassers verstanden zu haben.
Die besondere Leistung Helmut Hannigs liegt nicht nur wegen dieses Rätselhaften des Originals in seiner eigenen deutschsprachigen Umsetzung. Es ist vielmehr das geradezu kongeniale Sprachgefühl, mit dem er den Inhalt und die Gefühlsdichte der Original-Zeilen und -Verse erfasst.
In „Le Bateau Ivre“ geht es um ein Segelschiff in seiner für die Romantik typischen Symbolik für das eigene Leben oder Schicksal. Es segelt „ivre“, also besoffen, steuerlos, segelt, „wassertrunken“ und „verloren“, segelt ohne Besatzung dahin. Nur der Dichter ist nüchtern, ist da, ist aber unfähig, das Schiff zu führen.
Monatelang treibt er auf dem Schiff umher, ein Spiel der Wellen und Winde. Auf Flüssen von Treidlern gezogen, die von Rothäuten erschossen wurden, hatte es mit schwerer Ladung das offene Meer erreicht. Steuerlos, kann es seinen Weg nicht bestimmen, keinem Kurs folgen, weiß nicht, wohin es von den unbeherrschbaren Naturgewalten getrieben wird. Es wird in den Wogen auf und ab geschleudert, hilflos. Und doch ist der Dichter als einzige Besatzung zunächst voller Hoffnung auf Rettung in einem sicheren Hafen.
Märchenhafte Inseln und seltsame Unterwasserwesen treiben mit Gletschern und Riesenschlangen vorbei. Singende Fische und Paradiese mit Meerschaumwiesen wechseln sich mit Sümpfen und schwarzen Fischpferden ab. Blüten brechen im Meeresleuchten auf. Herumgeworfen in einem rasenden Sturm, scheint das Schiff im Wirbel des Sturms nach oben gerissen zu werden, scheint zwischen Himmel und Erde zu hängen, und kracht am Ende doch in die Wellen zurück. Die Reise ist zu Ende.
Mit Schrecken erkennt der Dichter, dass das Schiff im Kreis gefahren ist, sieht voller Grauen dem Auflaufen an demselben Ufer entgegen, von dem er zu neuen, besseren Ufern aufgebrochen war.
Hätte er jetzt, im Stadium höchster Verlorenheit, jemals wieder Sehnsucht nach irgendeinem Wasser in Europa, dann, so der Dichter, nur nach der schwarzen Pfütze, auf der er als Kind ein Papierboot, so zerbrechlich und zart wie ein Maifalter, „dämmerungswärts“ fahren ließ.
Der Traum des Dichters vom Erstürmen der Meere ist aus.
Als Jean Nicolas Arthur Rimbaud dieses Gedicht schrieb, war er 17 Jahre alt.
Wer aber war dieser Rimbaud?
Das Elternhaus
Geboren wurde Jean Nicolas Arthur Rimbaud am 20. Oktober 1854 unweit der belgischen Grenze in der französischen Provinzstadt Charleville an der Maas im Departement Ardennes, wenige Kilometer von Mézières entfernt, mit dem Charleville heute eine Doppelstadt bildet.
Nach seinem Großvater Nicolas und seinem Vater Arthur getauft, war er der jüngere Sohn seiner Eltern, die außer ihm vier weitere Kinder hatten, einen älteren Sohn und drei Töchter, von denen eine als Kind verstarb und eine zu seiner treuesten Lebensendzeitbegleiterin wurde. Schon mit zehn Jahren begann der kleine Rimbaud, Gedichte zu verfassen.
Der Vater Arthur Rimbaud, - blond, blauäugig, mittelgroß, gutaussehend und ausgesprochen ehrenhaft - stammte aus Burgund, war also provenzalischer Abkunft. Er stieg in französischen Diensten vom einfachen Rekruten zum Offizier auf, war tapfer, gewissenhaft und gescheit, ein großes Sprachtalent mit nennenswerter Schreibbegabung und bis 1850 Führungsperson im militärischen Verwaltungsdienst in Algier. Verantwortlich für Recht und Ordnung und das Einziehen von Steuern und anderen Abgaben, war er wegen seiner Menschenfreundlichkeit beliebt und wegen seiner Zuverlässigkeit hochgeschätzt. Für herausragende Tapferkeit wurde er mit mehreren Kriegsmedaillen und Tapferkeitsorden ausgezeichnet. 1854, dem Geburtsjahr seines später so berühmten Sohnes, wurde er zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.
1850 wurde er aus Algier nach Frankreich zurückbeordert und zwei Jahre später in Mézières, dem Nachbarort von Charleville, stationiert. Dort, in Charleville, lernte er eines Nachmittags bei einem Standkonzert seine spätere Frau Vitalie kennen. Möglicherweise kam die Begegnung zustande, weil einer der Brüder Vitalies, der "Afrikaner" genannt, ebenfalls in Algier lebte und dort Rimbaud kennengelernt hatte oder mit diesem zusammen nach Frankreich zurückgekehrt war.
Vitalie stammte aus einem angesehenen Bauerngeschlecht aus den Ardennen, das in dem Dörfchen Roche einen Gutshof besaß, und war neben zwei Söhnen die einzige Tochter ihrer Eltern, vor allem aber das einzige Kind, das den Eltern Ehre machte.
Der älterer ihrer Brüder war ein wilder Tunichtgut, der sich mit 16 Jahren einer Verhaftung wegen Diebstahls durch die Flucht entzog, vermutlich Soldat wurde und in Algier stationiert war. Kurz vor Vitalies Hochzeit kehrte er heim. Mit 30 Jahren war er, der besagte „Afrikaner“ tot.
Der jüngere Bruder verfiel dem Alkohol, wurde Landstreicher und Bettler und verlangte noch auf dem Sterbebett nicht etwa die letzte Ölung, sondern eine Flasche Rotwein und starb erst, als er diese in einem Rutsch ausgetrunken hatte.
Die Ehe der Eltern Rimbauds
Vitalie war nicht mehr besonders jung, als sie ihren Arthur kennenlernte. Groß und schlank, fast hager, das dunkle naturgelockte Haar stets streng zurückgekämmt, war sie so fromm wie erzmoralisch und erlaubte sich selten, ihre warmherzige, gefühlvolle Seite zu zeigen. Schon als junge Frau galt sie als mutig, energisch und geradeheraus und hielt so ihre wilden Brüder in Schach. Eigenschaften, die den Soldaten Rimbaud wohl beeindruckten.
Eine sogenannte Muss-Heirat war diese Hochzeit keinesfalls, denn das erste Kind aus der Ehe war eindeutig keine Frühgeburt. Vielmehr muss Vitalie wohl sehr verliebt in den attraktiven, lebenslustigen Offizier gewesen sein, denn sie überzeugte ihren Vater nicht nur, eine im Sinne des wohlhabenden Gutsbesitzers und bodenständigen Bauern eindeutige Mesalliance mit ausgerechnet einem von Garnison zu Garnison ziehenden, kriegsgefährdeten und obendrein wenig Geld verdienenden Soldaten eingehen zu dürfen. Nein, er gab ihr obendrein eine reiche Mitgift und zog für den Rest seines Lebens bei ihr und seinem Schwiegersohn ein.
Später galt Vitalie als hart und streng, duldete keine Widerrede und Nachlässigkeit und hielt es für ein Verbrechen, bei der Erziehung ihrer Kinder mit der Rute zu sparen. Sie ertrug jedoch selbst die schlimmsten Eskapaden ihrer Söhne mit Mutterliebe und Gottesfurcht.
Obwohl das Paar fünf Kinder miteinander bekam, zeigte sich bald, dass Arthur und Vitalie nicht glücklich miteinander werden konnten.
Er war gutmütig, freigebig und liebte es so vergnüglich wie behaglich.
Sie war, wohl auch in Anbetracht seines nicht besonders üppigen Einkommens und seiner Leichtlebigkeit, knauserig und zunehmend sauertöpfisch.
Er war Freidenker und hielt es nicht allzu streng mit der Moral.
Sie war fromm und moralisch ohne Pardon.
Er wünschte sich fröhliche Gesichter ihrer gemeinsamen Kinder.
Sie hatte nicht den geringsten Humor.
Ihr kleinster gemeinsamer Nenner bestand aus einer großen Silberschale, die sie abwechselnd im immer häufiger ausbrechenden Ehestreit zu Boden knallten, so dass die Kinder vor Angst und Schrecken zitterten.
Als der Großvater starb, war der kleine Jean Nicolas Arthur vier Jahre alt, und das letzte Frieden stiftende Element zwischen den Eltern verschwunden.
Zwei Jahre hielten beide noch miteinander durch, dann trennten sie sich für immer.
Fortan sahen die Kinder ihren Vater nie mehr wieder und blieben vollends der radikalen, emotional verschlossenen und körperlich handfesten Erziehungsmethode ihrer Mutter überlassen.
Die alleinerziehende Mutter
Von Geldsorgen geplagt und verbittert, dass ihr Mann sie und die Kinder sitzen gelassen hatte, setzte Vitalie nunmehr ihren ganzen Ehrgeiz daran, in ihren Kindern jedes mögliche schlechte Erbe des Vaters und der beiden missratenen Onkel auszumerzen.
Bis zum siebten Lebensjahr unterrichtete Vitalie ihre Kinder selbst. Ab dem achten Lebensjahr besuchten sie eine öffentliche Schule, doch holte die Mutter sie bis zum 16. Lebensjahr täglich von der Schule ab, um zu verhindern, dass sie in schlechte Gesellschaft kämen.
Während der ältere Sohn bald schon jedes Interesse an Schule und Lernen verlor, entwickelte sich der jüngere Jean Nicolas Arthur zum wahren Musterschüler, der alljährlich die besten Noten und höchsten schulischen Auszeichnungen abräumte. In Erwartung seines herausragenden Werdegangs ließ Vitalie ihrem Wunderkind deshalb trotz aller Geldnot zusätzlichen Privatunterricht erteilen.
Freiräume nur in der Fantasie
Trotz der extremen Überwachung durch die Mutter gelang es dem kleinen Rimbaud, sich Freiräume zu schaffen, indem er las und las und las und sich eine eigene Welt aus Märchen und Abenteuergeschichten erschuf.
Am liebsten träumte er sich als Kapitän auf ein Segelschiff und Freiheit auf hoher See. Oft lag der Knabe dabei auf einem Ballen Leinenstoff, aus dem die Mutter Bettwäsche zu nähen pflegte, und malte sich aus, es sei ein windgewölbtes Segel.
Als er zusammen mit seinem Bruder in die öffentliche Schule kam, versteckten beide Jungen sich oftmals am Ufer der Maas und spielten dort in einem kleinen Fischerkahn Kapitän und Steuermann. Der Fluss mit seinem ungehindert dahinströmenden Wasser und das Meer, das Jean Nicolas Arthur Rimbaud erst als Erwachsener erblickte, wurden für den fantasievollen Knaben zum absoluten Sehnsuchtsort und Inbegriff der Freiheit.
Vom Klassenprimus zum „enfant terrible“
Tief religiös, gehorsam und angepasst, unerhört fleißig und wissbegierig, war Jean Nicolas Arthur Rimbaud stolz auf seine Leistungen als ständiger Klassenprimus und genoss es, besonders für sein Sprachtalent und seine herausragenden Aufsätze allseits bewundert zu werden und auch Freunde zu gewinnen.
Dennoch gelang es ihm nicht, alle seine Lehrer für sich einzunehmen. Sein Direktor zum Beispiel meinte, der Junge habe etwas in seinen Augen und in seinem Lächeln, das ihm nicht gefalle.
Und tatsächlich, ab dem 14. Lebensjahr begann der Musterknabe plötzlich, über die Stränge zu schlagen.
Angeregt von seinem verehrten Lehrer, der die dichterische Begabung des Knaben erkannte und fördern wollte, setzte dieser sich zunächst intensiv mit den alten griechischen und lateinischen Poeten auseinander. Bald begeisterte er sich aber auch für die französischen Dichter der Romantik.
Insbesondere Victor Hugo, der wie Rimbaud Sohn eines französischen Offiziers war und nach Abschluss des Gymnasiums schnell Aufnahme in Literatenkreise fand, hatte es ihm angetan.
Zutiefst verinnerlichte er dessen literarisches Credo, die Natur sei Kunst, die Literatur der ungeschönten Wahrhaftigkeit verpflichtet und müsse sich deshalb auch der hässlichen Seiten des Lebens annehmen.
Insbesondere faszinierte ihn, der extrem unter der mütterlichen Bevormundung und dem von ihr ausgehenden Zwang zur Anpassung litt, Hugos Auseinandersetzung mit dem Missbrauch der Macht und dem Aufbegehren gegen Unterdrückung.
Für die kaisertreue Mutter war Victor Hugo, der von Louis Napoléon Bonaparte aus Frankreich verbannt worden war und seither auf der zwar britischen, doch sprachlich französischen Kanalinsel Guernsey lebte, ein solche „Unperson“, dass sie dem verantwortlichen Lehrer einen geharnischten Protestbrief schrieb und ihrem Filius heiße Ohren verpasste.
Vergeblich! Der junge Mann hatte die literarische Freiheit des Geistes gekostet; und obwohl er auch seinen Schulabschluss wieder als Bester absolvierte, war die Zeit seiner braven Angepasstheit vorbei.
Fluchtversuche
Die Kriegszeit des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 begann für den 15-Jährigen mit Sommerferien, Langeweile und Depressionen. Neidvoll sah er, wie sein nur wenig älterer Bruder der Zucht der Mutter als Kriegsfreiwilliger entkommen war und schmiedete auch für sich Fluchtpläne.
Kurz nach dem Verschwinden seines Bruders spazierte er eines Nachmittags mit Mutter und Schwestern am Ufer der Maas, erklärte, nur rasch ein Buch holen zu wollen, stieg stattdessen in den nächstbesten Zug und – fort war er.
Während die verzweifelte Mutter den spurlos Verschwundenen die ganze Nacht lang suchte und in Todesangst befürchtete, er sei den heranrückenden deutschen Soldaten in die Hände gefallen, saß der Ausreißer in Paris im Gefängnis, weil er der Polizei ohne Fahrkarte und Geld ins Netz gegangen war.
Erst als ihm eine Haftstrafe drohte, wandte er sich um Hilfe an seinen früheren Lehrer, der ihn auslöste und bei sich aufnahm. Die Mutter hingegen war so empört über die Wandlung ihres Sohnes, dass sie schwor, ihn nicht mehr aufnehmen zu wollen, wenn er nicht sofort zurückkehre und ihm dann einen so groben Empfang bescherte, dass er kurz danach erneut und doch abermals vergeblich zu seinem Lehrer ausriss.
Die seelische Verstörung
Ausreißen wurde für den jungen Poeten zur zweiten Natur und die Erfahrungen in den Zeiten seiner Fluchten zu ver- und zerstörenden Seelenqualen.
Insbesondere eine hässliche sexuelle Erfahrung, die von Rimbaud nur verschlüsselt niedergeschrieben und nie konkret definiert wurde, aber an sexuellen Missbrauch des damals Minderjährigen denken lässt, belastete ihn schwer.
Der Gedanke liegt nahe, dass der mädchenhaft wirkende und sexuell völlig unerfahrene Jugendliche mit dem zarten Gesicht und den wilden Lockenhaaren von Soldaten missbraucht oder von einer Hure verführt wurde, bei denen er als mittelloser Obdachloser in Paris Zuflucht gesucht hatte.
Als er nach dieser traumatischen Episode nach Hause zurückkehren musste, trieb er seine Mutter, ebenso wie seine früheren Lehrer und Mitschüler, mit seinen pubertär anmutenden, jedoch als seelische Hilferufe zu deutenden Eskapaden zur Verzweiflung.
Anstatt wieder zur Schule zu gehen, streunte er umher. Er wusch und kämmte sich nicht mehr, ließ sein Haar in langen Zotteln wachsen, gefiel sich in verdreckten Klamotten und verhöhnte die brav lernenden Schüler, indem er zu den Schulfenstern hineingrinste, und entsetzte die braven Bürger von Charleville mit zotigen Gedichten.
Von den wenigen Mädchen, denen er sich zu nähern wagte, wegen seines heruntergekommenen Aussehens und Lotterlebens verspottet, entwickelte er eine tiefe Aversion gegen alles Weibliche, obwohl es ihn anzog.
Vom Moralisieren der Kirche und der Frömmelei seiner Mutter abgestoßen, verlor er seinen früheren Glauben und litt zugleich zutiefst darunter, dass er nicht mehr glauben konnte.
Die Vision des Dichters als Stimme Gottes
Stattdessen wandte Rimbaud sich den Lehren des Satanismus‘ und okkulten Praktiken zu. Bald nahm ihn die Sinnsuche nach dem wahren Göttlichen in der Kabbala gefangen.
Der Dichter als Stimme Gottes, als „Seher“ und „Wissender“ erschien ihm real und er selbst dazu bestimmt, ein solcher „Seher“ zu sein.
Nur durch eine völlige Verwirrung aller Sinne schien ein Dichter ein Seher und Stimme Gottes werden zu können.
Wie ein Märtyrer fühlte Rimbaud sich bereit, dieses Opfer der absoluten Sinnverwirrung zu bringen, indem er mit allen geltenden Konventionen brach und brechen wollte, um im Hässlichen das Göttliche zu sehen und im Wort auf ewig zu verinnerlichen.
Rauschmittel und Homosexualität schienen ihm die geeigneten Türöffner zur allumfassenden Wahrnehmungsübersteigerung und göttlichen Allwissenheit.
Le Bateau Ivre
In sein dichterisches Werk setzte Rimbaud sein Streben nach dem totalen Konventionsbruch um, indem er eine neue Dichtersprache erfand oder doch zumindest erfinden wollte.
Diese neue Sprache sollte Poesie als einen Geistes- oder Seelenzustand zeigen, indem sie im Wort zugleich Gerüche, Farben, Töne, Gefühle unwandelbar und auf ewig verständlich zusammenfasst und quasi „Seele für die Seele“ ist.
„Le Bateau Ivre“ ist das letzte Gedicht aus Rimbauds Schaffensperiode seiner frühen Jugendjahre.
Es entstand kurz vor Rimbaud zweiter Flucht nach Paris, wo er sich ein eigenständiges Leben als Dichter aufzubauen hoffte, nachdem die Mutter ihn unter Druck gesetzt hatte, entweder, er nähme in Charleville eine ihr genehme Arbeit an, oder sie unterstütze ihn nicht mehr. Genährt wurde diese Hoffnung durch eine 1871 erfolgte Einladung des Pariser Dichters Paul Verlaine, dem Rimbaud sein „Bateau Ivre“ gezeigt hatte.
In der Komplexität der Sprache und ihres intensiv emotionalen, zugleich explosiven und poetisch reichen Ausdrucks stellte dieses Gedicht das vielleicht größte Werk Rimbauds ganzen literarischen Schaffens dar.
Rimbaud und Verlaine - Hassliebe und Hörigkeit
Paul Verlaine, dessen Vater ebenfalls Offizier war, war zehn Jahre älter als Rimbaud und wie dieser ein glühender Verehrer Victor Hugos. Als Lyriker war er in Pariser Literaturcafés und literarischen Zirkeln mit fast allen Schriftstellern seiner Zeit bekannt oder befreundet. Dank seiner stets großzügigen Mutter hatte er keine Geldsorgen, verfiel jedoch immer wieder dem Alkohol und in Gewaltexzesse.
Als er den jungen Rimbaud bei sich Zuhause aufnahm, dessen große dichterische Begabung er erkannte, war Verlaine zwar erst kürzlich Vater geworden, begann aber trotzdem ein homosexuelles Verhältnis mit dem damals noch immer sehr mädchenhaft wirkenden Knaben. Eine Neigung, die sich in zahlreichen homoerotischen Werken Verlaines niederschlug.
Die Hoffnung auf ein literarisch erfolgreiches Leben, die Rimbaud nach Paris getrieben hatte, erfüllte sich trotz seiner Verbindung mit Verlaine und der gemeinsamen ausschweifenden Lebensart nicht.
Mittelos und von den Zuwendungen Verlaines abhängig, taumelte Rimbauds Lebensschiff wie sein „Bateau Ivre“ von einem Exzess zum nächsten.
Er wurde benutzt und benutzte selbst und erkannte zuletzt in abgrundtiefer Verzweiflung, dass alle seine bisherigen Sinnverwirrungen durch Ausschweifungen. Drogen und Tabubrüche ihn nicht zum Ziel geführt hatten, noch ihn zum Ziel führen würden, „Stimme Gottes“ zu sein.
Ernüchtert, von sich selbst enttäuscht, aller Illusionen und Träume beraubt, entsagte Rimbaud seinem literarischen Werk und verlor sich stattdessen in ein rastloses Wanderleben.
Fünf Jahre lang vagabundierte er durch Europa, lernte diverse Sprachen und kam nach etlichen Irrungen und Wirrungen nach Zypern, wo er u. a. als Sprachlehrer, Söldner, Zirkusdolmetscher und Aufseher in einem Steinbruch arbeitete.
1880 wurde er Kaffee- und Tierhauthändler, Waffenschmuggler, Sklavenhändler und Kolonialist im nordafrikanischen Abessinien, wo er irgendwann aus dem Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit heraus dieselbe Knausrigkeit entwickelte, die seine Mutter an den Tag gelegt hatte.
1891 kehrte er schwer krank nach Frankreich zu seiner Mutter zurück, weil er in der alten Heimat eine Frau finden und heiraten wollte. Beinamputiert, von Schmerzen zermartert und alsbald neu ausbrechenden Geschwulsten befallen, verstarb er unvermählt in einem Krankenhaus in Marseille an Krebs oder den Spätfolgen einer nicht ausgeheilten Syphilis.
Das literarische Vermächtnis
Nach seinem 20. Lebensjahr hatte Rimbaud keine neuen Gedichte mehr verfasst.
Er gilt heute als Vorläufer des Symbolismus und beeinflusste mit seinen Werken sowohl den Expressionismus als auch den Surrealismus.
Veröffentlicht wurden seine Werke nicht von Rimbauds selbst, sondern von seinem Freund Verlaine, der Rimbauds Prosagedichte schon während Rimbauds Zeit auf Zypern und in Abessinien herausgab.
Als eines der aussagestärksten Zitate Rimbauds zur eigenen Person kann man aus seinem Werk „Ein Aufenthalt in der Hölle“ anführen:
„Manchmal sehe ich am Himmel endlose Gestade, bedeckt mit weißen, freudigen Völkern. Ein großes goldenes Schiff winkt über mir mit seinen vielfarbigen Flaggen in der morgendlichen Brise. Ich habe alle Feste erschaffen, alle Siege, alle Dramen. Ich habe versucht, neue Blumen zu erfinden, neue Sterne, neue Wesen des Fleisches, neue Sprachen. Ich habe geglaubt, ich könnte übernatürliche Kräfte erwerben. Und siehe! ich muss meine Phantasien und Erinnerungen begraben! Dahingeweht, der schöne Ruhm des Künstlers und Erzählers! Ich! Ich, der ich mich Magier oder Engel nannte, enthoben aller Moral, ich bin dem Boden zurückgegeben, um meine Pflicht zu suchen und die raue Wirklichkeit zu umarmen! Ein Bauer!“ (Ein Aufenthalt in der Hölle, Abschied, 1873, Übersetzung Thomas Eichhorn)
Helmut Hannig und „Das trunkene Schiff“
Helmut Hannig hat den am eigenen Genius scheiternden jungen Dichter zutiefst erkannt. Er hat dessen Worte zum berühmten Wein in alten Schläuchen werden lassen, indem er die Verse Rimbauds nicht wortwörtlich übersetzte. Das habe viele und namhafte Übersetzer seit eh und je getan. Vielmehr hat er sich den Worten Rimbauds interpretatorisch angenähert, hat sie mit Botschaften gefüllt, die ein neues Werden anstoßen.
In einer bibliophilen Kunstdruckausgabe enthält Helmut Hannigs Broschüre mit dem prägnanten geborstenen Ruder in Blau auf dem Titelblatt eine, wie ich meine, kongeniale Nachdichtung.
Verbunden mit einer bleistiftskribbierten Porträtzeichnung des 18-jährigen Dichters Rimbaud, die einer historischen Aufnahme nachempfunden ist, und einem stilistisch passenden Selbstporträt Hannigs, entfaltet sich der innenliegende Text im französischen Original und der Nachdichtung Hannigs.
Mittig, die beiden Versionen trennend und verbindend zugleich, findet sich eine handsignierte Holzfurniercollage des in den Wellen berstenden Schiffs.
Eingebunden in den Schutzumschlag, lässt sich der „Blaue Peter“, ein mit der französischen Tricolore im Papier verquickter Wimpel, wie ein Relikt des gebrochenen Masts entfalten.
Real das Zeichen des Kapitäns, der weithin sichtbar signalisierte, dass seine Mannschaft abgeheuert hatte und er neue Seeleute anheuern wollte, ist Hannigs „Blauer Peter“ ein dreifaches, ein „tricolores“ Sinnbild: Das des desolaten, führerlosen Zustands des „trunkenen Schiffs“ und des Dichters Rimbaud, das des Fragmenthaften der Worte und das des sturmbewegten Meeres. Silbern entrollen sich Wortfragmente auf dem blauen Band und enden in einer stilisierten Träne, die sich im mäandrierenden Rund ins Unendliche verliert.
Bild-Porträt Rimbaud
https://www.britannica.com/biography/Arthur-Rimbaud
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/zufallsfund-rimbaud-fotografie-schemen-im-jemen-1998352.html